Slide Ich warte in der Londoner Embankment-Station auf meine U-Bahn. »Mind the Gap«, scheppert es aus den Lautsprechern. Ich nehme den nächsten Zug. Dieser hier, vor mir auf den Gleisen, hält nicht an der Baker Street, wo ich meinen Termin habe. Bis dahin ist glücklicherweise noch eine knappe Stunde Zeit und ich kann das Café in Ruhe finden. »Mind the Gap«, mahnt die Stimme ein zweites Mal, obwohl ich sie bereits beim ersten Mal laut und deutlich hören konnte. Mir fällt auf, dass hier, anders als in Deutschland, nicht von einem »Abstand zwischen Zug und Bahnsteigkante« die Rede ist. Alles könnte gemeint sein. »Mind the Gap«, zum dritten Mal, bevor sich die Türen der District Line schließen. Ich bleibe zurück. Wie kann ich diesen »Gap« eigentlich ins Deutsche übersetzen? Sowohl »Abgrund« als auch »Spalt« treffen es nicht ganz, finde ich. Was ist denn dort, zwischen den Dingen, wenn man das überhaupt so fragen kann? Ein Abgrund, das Universum, Luft, oder ist da nichts?

Zwischen zwei Tönen jedenfalls liegt ein Intervall – so entspricht es den Konventionen der westlich geprägten Musik und so habe ich es damals gelernt. Die Frequenzen unseres Tonsystems sind in unserer gängigen Stimmung genormt und festgelegt: Jeder 13. Ton wird dabei als eine höher klingende Wiederholung des ersten interpretiert. Entsprechend kehren auch die Verhältnisse von Tonhöhen-Abständen wieder, und all diese Abstände weisen bestimmte Charakteristika auf. Anhand dieser Eigenschaften klassifizieren wir Intervalle als konsonant oder dissonant. Ich starre auf ein Plakat, ohne es zu lesen, und versuche diese Gedanken für mich zu ordnen und in meinem Kopf besonders akkurat zu formulieren. Aber sicherlich ist mir irgendwo ein Fehler unterlaufen, meine Sätze sind viel zu kompliziert, und ein besonders gebildeter Mensch würde sagen: »Das ist so nicht ganz richtig« Egal, ich versuche es weiter. Wir Menschen können nicht anders als ständig alles zu bewerten, oder? Auch unsere Harmonielehre funktioniert auf diese Weise: Konsonante Intervalle klingen stabil, wir nehmen sie gemeinhin als angenehm, reibungslos und schön wahr. Dissonanzen hingegen streben nach Auflösung und klingen tendenziell unangenehm. Das ist unsere Interpretation. Ich frage mich, wie es sich wohl anfühlt, ein alter Meister und sich seiner Sache sicher zu sein. »Hammersmith – 4 Min« zeigen die Pixel auf der Tafel über den graubedeckten Kapuzen-Köpfen. Keine neuen Nachrichten auf dem Smartphone.

Auf diese Wertung, auf die Unterscheidung zwischen Konsonanz und Dissonanz baut die gesamte westeuropäische Musikgeschichte auf. Das schließt den Kanon mit ein, der zum Beispiel an Musikhochschulen und Opernhäusern gepflegt wird, aber auch jeden einzelnen Song der globalisierten Popkultur. Ein »Unlearning Konsonanz und Dissonanz« war die Mission zahlreicher Komponistinnen und Komponisten des 20. Jahrhunderts. Durchgesetzt haben sie sich damit nicht. Wie war das gleich nochmal mit Karlheinz Stockhausen? Wollte er das auch? Ich weiß es nicht mehr. Das war Musikgeschichte, zweites Semester, da saß ich neben Laura und in den Pausen haben wir unser Hanuta geteilt. Hier in der Londoner Tube hilft Google gerade auch nicht weiter. Kein Netz, Stockhausen muss also warten.

Ich denke an das Gespräch mit den Stipendiatinnen und Stipendiaten der »Akademie Musiktheater heute« neulich in Frankfurt. Abends saßen wir noch bei Apfelwein zusammen und Sergey Kim, einer der Komponisten, meinte: »Ich unterscheide nicht zwischen Konsonanz und Dissonanz. Zumindest denke ich nicht daran, wenn ich Musik schreibe. Für mich ist der Kontext wichtig.« Ich fragte ihn, woran das liegen würde. »Das hat mit der Musikgeschichte zu tun. Zu Beginn der Kirchenmusik galten alle Intervalle, mit Ausnahme der Oktave und der Quint, als dissonant. Mit der Zeit hat unser Gehör immer mehr dissonante Intervalle als konsonant akzeptiert, bis sich das im 20. Jahrhundert komplett relativiert hat. Deshalb ist meine Entscheidung für dieses oder jenes Intervall, bzw. für diesen oder jenen Akkord nicht auf ein historisch-hierarchisches Verständnis zurückzuführen, sondern auf meinen assoziativen Geschmack.«

»Naja, ich glaube, dass wir immer noch davon geprägt sind. Diese Prägung zu ignorieren, interessiert mich nicht«, meinte Thierry Tidrow daraufhin. Thierry war als Alumnus der Akademie spontan für einen anderen Komponisten eingesprungen und saß nun gut gelaunt mit uns am Tisch: »Überspitzt formuliert assoziieren wir nach wie vor eine kleine Terz mit ›traurig‹ und eine große Terz mit ›fröhlich‹. Anstatt gegen diese Erwartung anzukämpfen, arbeite ich mit ihr. Dissonanzen überführe ich in Konsonanzen.« Jemand in der Runde hakte nach, so ganz beschreibe das seine Musik doch nicht. »Stimmt, diese Konventionen zu überdrehen, das reizt mich auch. Dur-Akkorde können beispielsweise so laut und grell gespielt werden, dass sie gar nicht mehr angenehm klingen. Oder Mikrotöne, die sind auch spannend! Wenn zum Beispiel ein Intervall genau zwischen einer großen und kleinen Terz schwebt, dann ist der Charakter dieses Klangs für unsere Ohren völlig ambivalent.«

»Hammersmith – 1 Min«. Mir wird warm in den Londoner U-Bahn-Luft und ich öffne meine Regenjacke. Ich bin froh, sie in letzter Minute noch in meinen Rucksack gestopft zu haben.

Im Frankfurter Gasthaus, zwischen Schnitzeln und veganen Platten, kam später noch Jadwiga Frej, die dritte Komponistin unseres Jahrgangs, dazu. Sie war gerade erst von einer Probe aus Dresden angereist. »Dissonanzen sind für mich wichtig, weil sie Eigenschaften, die musikalische Elemente als solche ausmachen, herausarbeiten können.« Das ging uns zu schnell, sie musste das genauer erklären, während die Kellnerin den nächsten Bembel auf den Tisch stellte. »Indem wir akustische Phänomene gegeneinanderstellen, sie auch mal ›zer-klungen‹, in Dissonanz wahrnehmen, werden wir uns außerdem der Zeitlichkeiten und Gleichzeitigkeiten musiktheatraler Darbietungen bewusst. Daneben braucht es aber auch Konsonanzen, Momente des Ineinander-Klingens, in denen alle Elemente miteinander harmonieren und sich wie Puzzleteile ineinanderfügen. Ich arbeite mit diesem Konzept von Konsonanz und Dissonanz auch beim Komponieren von Klangfarben, von visuellen Elementen und von Text.«

»Train is approaching«, blinkt die Anzeige und ich prüfe den Sitz meines Rucksacks. Zwischen den Tönen liegen mit den Intervallen also auch ihr Status und ihre Schönheit, ihre Farben und Funktionen, denke ich. Dort liegt alles Vertraute, alles Fremde, ein Tonsystem als Kissen und Abgrund. Schön klingt das, denke ich, aber auch ein bisschen pathetisch, und das sollte man besser nicht machen, haben sie an der Hochschule gesagt. Das Wesentliche der westlichen Musiksprache ist relativ. Doch wie ist das mit den Dingen an sich? Sind die Dinge das, was sie sind, aufgrund ihres Verhältnisses zu einander? Meine Bahn kommt. »Mind the Gap!«, diesmal gilt das mir. Die Türen der Circle Line öffnen sich. Das Handy blinkt. Grüße aus Berlin. Habe also doch Empfang hier unten, freue ich mich und steige ein. »Mind the Gap!« – Mein Verstand kann das Dazwischen nicht fassen. Aber meine Ohren können es hören. In Berlin schließen die S-Bahn-Türen übrigens mit einer großen Terz.

»Mind the Gap« – Konsonanzen / Dissonanzen Festakt »Mind the Gap« Jadwiga Frej, Sergey Kim und Thierry Tidrow über musikalische Konventionen

Essay von Sina Dotzert
Szenen aus den Proben: Komponist Sergey Kim im Gespräch mit Violinist Giorgos Panagiotidis, Dirigent Alexander Sinan Binder, Mezzosopranistin Maria Melts und Bariton Jonathan Macker © Sonja Palade Drei Jahre lang erarbeitete der Stipendienjahrgang 2019-2022 der »Akademie Musiktheater heute« (AMH) drei Musiktheaterstücke zum Motto »Mind the Gap«. Die AMH kooperiert für das Abschlussprojekt seit 2019 mit dem Ensemble Modern und der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt. © Suad Kamardeen ← Zurück zu Kontext
Kontext Partner Der Festakt 2022 der »Akademie Musiktheater heute« (AMH) findet in Kooperation mit dem Ensemble Modern und der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt statt.

Die »Akademie Musiktheater heute« ist ein Förderprogramm der Deutsche Bank Stiftung für junge Talente aus dem Musiktheater.
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